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Verzweiflung

Wer richtig verzweifelt ist, erleidet seelische Schmerzen und erlebt das Gefühl einer tiefen Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Menschen verzweifeln, wenn sie erkennen, dass die Situation endgültig ist: die Diagnose einer schweren Krankheit ohne Aussicht auf Heilung. Der plötzliche Tod eines geliebten Menschen. Die Trennung vom Partner und von der Familie. Verzweiflung macht sich immer dann breit, wenn Menschen spüren, dass sie mit ihren Kräften und ihrer Weisheit am Ende sind.
 
In dieser Lage bleibt vielen nichts anderes mehr, als laut aufzuschreien. Wie der Mensch auf dem Bild „Der Schrei“ des expressionistischen Malers Edvard Munch (1863–1944), einer der bekanntesten Darstellungen eines Verzweifelten in der Kunst. Das eigentlich Bedrückende dieses Bildes ist für viele jedoch nicht der Schrei des Verzweifelten, der auf tiefen Schmerz und schiere Hoffnungslosigkeit schließen lässt. Sondern die Tatsache, dass sein Schrei offensichtlich von niemandem gehört wird und im Nichts verhallt. Menschen, die von ihrer Verzweiflung überwältigt werden und mit ihrem Schmerz allein bleiben, nehmen Schaden an ihrer Seele. Wie die Göttin Niobe. Die griechische Sage erzählt, dass sie aus Verzweiflung und Schmerz über den gewaltsamen Tod ihrer Söhne und Töchter zu Stein erstarrte.
 
Der Schrei verzweifelter Menschen ist zunächst unmittelbarer Ausdruck ihrer spürbaren seelischen Schmerzen und ihrer Angst. Aber darüber hinaus auch der Schrei nach Hilfe. Nicht nur nach konkreter situationsgerechter Hilfe, zum Beispiel durch einen Arzt, eine Ärztin oder einen Seelsorger, eine Seelsorgerin. Besonders in starken seelischen Erschütterungen überwältigt viele das bedrohliche Gefühl tiefster Einsamkeit. Viele fühlen sich in einem existenziellen Sinn alleingelassen. Menschen erleben plötzlich sehr bewusst, dass diese Welt, in der sie und andere dem Tod ausgeliefert sind, nicht ihr endgültiges Zuhause sein kann.
 
Als religiöser Mensch kann man deshalb den Schrei eines Verzweifelten im existenziellen Sinn immer auch als ein Schreien nach Gott verstehen. Dieser Schrei zielt nicht nur auf die konkrete Lösung oder Befreiung in einer bestimmten Situation. Sondern auf die Befreiung schlechthin, die Überwindung der Grenzen des Menschseins, die Überwindung von Schuld, Krankheit und Tod. Er zielt auf Erlösung und Vollendung im generellen Sinn, die eben nur von dem kommen kann, der nicht Teil der Welt, sondern im christlichen Glauben deren Schöpfer und Vollender ist – von Gott selbst.
 
Dieser Gott steht nicht abseits der Verzweifelten wie die Menschen im Hintergrund auf der Brücke des erwähnten Bildes von Edvard Munch. Sondern er hört ihr Schreien. Davon erzählen zahlreiche Psalmen der Bibel: „Zu dir schrien sie und wurden errettet“ (Psalm 22,2) oder: „Er … hört ihr Schreien und hilft ihnen“ (Psalm 145,19). Davon berichtet auch die Grunderzählung des jüdischen Volkes von der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten: „Ihr Schreien über ihre Knechtschaft kam vor Gott. Und Gott erhörte ihr Wehklagen und gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Und Gott sah auf die Israeliten und nahm sich ihrer an“ (2. Mose 2,23–25).
 
In all diesen Texten geht es nicht in erster Linie um die Berichterstattung eines historischen Ereignisses (Errettung aus einer persönlichen konkreten Not, Befreiung aus der Sklaverei), sondern vielmehr um das Vertrauen in die Möglichkeiten Gottes, der Menschen aus existenzieller Not und Verzweiflung herausholt und ihnen neues Leben schenkt.
Und dann geht dieser Gott noch so weit, dass er das Schreien der Verzweifelten nicht nur hört, sondern es sich sogar zu eigen macht. Im Menschen Jesus Verzweiflung, Schmerzen und Not praktisch am eigenen Leib und an eigener Seele erleidet, um so den Menschen zu zeigen, dass er mit ihnen solidarisch ist.
 
Und schließlich zeigt er allen – nicht nur den Verzweifelten – den Weg, der durch den Tod hindurch in ein neues Leben führt. In die intakte Gemeinschaft mit Gott und anderen – jenseits von Streit und Einsamkeit. Von Schuld, Schmerzen und Not. Den Weg, sich mit Jesus im Glauben zu verbinden. Mit Jesus Christus, der gestorben ist und den Gott an Ostern zu neuem Leben auferweckt hat.
 
Solange Menschen auf dieser Welt leben, gibt es viele Gründe, zu verzweifeln. An mir selbst. An meinen Fehlern und Schwächen. An fremdem und eigenem Leid. Die können nicht kleingeredet werden. So wie auch Jesu Leiden und Sterben nicht verharmlost werden kann. Doch nach dem christlichen Glauben wird niemandes Leben in Verzweiflung und mit dem Tod enden. So wie auch Jesu Leben nicht mit dem Tod endete. Wo Menschen sich ausgeliefert fühlen und mit ihren Kräften und Möglichkeiten am Ende sind, ist Gott noch lange nicht am Ende. Christlicher Glaube und christliche Hoffnung sind das stärkste Gegengift gegen den Stachel der Verzweiflung.
 
Stefan Knöll

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Christus spricht: Ich war tot,
und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit
und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

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