Menümobile menu

Zurück zur Einstiegsseite

Angst

Ich stehe am Fenster, doch sehe ich nichts. Mein Magen ist wie ein großer fester Stein, er drückt. Ist mir heiß oder kalt? – Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht bewegen, die Schwere lähmt. Was ist richtig, was ist falsch? Meine Gedanken kreisen. Und doch muss ich eine Entscheidung treffen. Ich habe Angst, das Falsche zu tun.
 
Mein Bruder liegt vor mir, angeschlossen an Schläuche und Maschinen, er atmet, weit weg von mir, kein Lebenszeichen. Was werden wird: ein Fragezeichen. Der Schlaganfall war schwer, er liegt im Koma. Werde ich jemals wieder mit ihm sprechen können? Ich habe Angst, ihn zu verlieren!
 
Es ist spät, als ich in die kleine Gasse einbiege. Wieder ist das Licht kaputt. Ich gehe schneller, höre Schritte. Ein Keuchen hinter mir, Bewegungen, die ebenfalls schneller werden. Meine Hände schwitzen, mein Herz rast. Ich weiß, hier in dieser Gegend ist schon einmal etwas passiert. Ich habe Angst um mein Leben.
 
Angst hat viele Gesichter, namenlose, schwarze, ganz konkrete. Angst vor Menschen, vor Situationen, vor dem Tod, vor Schmerzen, vor dem Verlassenwerden, vor der Einsamkeit und der Liebe, die wehtun kann. Angst sitzt im Herz, im Bauch, im Kopf, sie lähmt mich, nagt an mir, frisst mich manchmal auf.
 
Angst, etwas Verbotenes zu tun, etwas Neues zu wagen, mich zu blamieren, bloßzustellen. Angst, für meine Rechte einzutreten, für das Richtige zu kämpfen, vielleicht mit meinem Leben zu bezahlen.
 
Ich denke an all die Menschen, die gefoltert, eingesperrt und verfolgt werden. Die nie wissen, ob es ein Morgen gibt, ob sie unverletzt den nächsten Tag überstehen, was die nächsten Stunden bringen. Angst vor dem Ungewissen, vor Entdeckung, vor dem Tod. Ängste, die ich nur erahnen kann – so schlimm, so groß.
 
Was tun, wenn mich die Angst packt, wenn ich nicht mehr denken kann, wenn mein Körper fliehen will und es keinen Ausweg gibt, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe – wenn ich nicht mehr weiß, was helfen kann?
 
Ich denke an den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der von den Nazis hingerichtet wurde. An all das Leid und all die Angst, die bleibt und sich festsetzt in der Seele der Menschen, die Grausames erlebt haben.
 
Doch Dietrich Bonhoeffer schenkt uns Trost und Hoffnung, mit einem Lied gegen die Angst und dem Versprechen: Fürchte dich nicht, du bist nicht allein.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Britta Jagusch

Diese Seite:Download PDFDrucken

© buwal / Fotalia.com

Die Augen Gottes sind die Augen jener Liebe,
die nichts und niemanden aufgibt
und die im Hinsehen, im Mehrsehen das,
was sie sieht, verändert,
weil sie seine Möglichkeiten entdeckt.

(Dorothee Sölle)

to top